Welche Bedeutung (oder auch nicht) haben die Parameter vmin und tUmgr beim technischen Reißen?

von Peter Krinke (01-2012)

Diese Parameter kann man mit dem Weightlifting -Analyser (zu beziehen IAT Leipzig, Dr. Lippmann/Holger Jentsch) ermitteln.
Für den Bewegungsablauf im Reißen wird diesen Werten zur Zeit große Beachtung geschenkt.
Meiner Meinung und Erkenntnis nach ist das Zustandekommen dieser Werte zum größten Teil auf anatomische Besonderheiten des Athleten (biologische Handschrift) zurückzuführen.
Eine Veränderung dieser Werte ist nicht direkt und durchgreifend trainierbar und ich halte sie auch nicht für eine hohe
Leistungsausschöpfung und das Gelingen eines Versuches für entscheidend.
Wie schon in den Kapiteln über die Technik des Reißens beschrieben, ist in dieser Disziplin die individuelle Hantelflugbahn (HFB),die individuelle Zughöhe (sZH) und die dazu erforderliche individuelle maximale Beschleunigung (vmax) der Hantel für die optimale/maximale individuelle Maximalleistung des Athleten verantwortlich.
Diese Parameter lassen sich von Sportler und Trainer gut beherrschen und je nach Bedarf zu einem gewissen Grad verändern und anpassen.
Nachstehend stelle ich einige Vergleiche mit Lasten aus dem Maximalbereich im Reißen in Bezug der Parameter zwischen unseren
aktuellen möglichen Olympiateilnehmern in London und deren möglichen Konkurrenten vor.

Legende: sv max = Höhe der Hantel bei v max = maximale Geschwindigkeit der Hantel.
sZH = maximale Höhe der Hantel (Zughöhe).
v min = vertikales Maximum der Hantelgeschwindigkeit nach dem oberen Umkehrpunkt.
tUmgr = Zeit von Erreichen v max bis v min.

Name

Wettkampf

Last

svmax/sZH

Differenz svmax/sZH

vmin/tUmgr

 Spieß

OS 08

173

101/128

+27

84/367

 

BL-Endk.- 011

168

99/126

+27

85/376

 

DM 011

173

102/127

+25

99/379

Aramnau

OS 08

200 WR

100/129

+29

82/379

Dolega

OS 08

195

104/133

+29

110/409

Lapikov

OS 08

190

107/138

+31

83/404

 

WM 09

194

108/141

+33

88/411

Kuzilov

WM 09

187

99/132

+33

61/390

Es lässt sich gut erkennen, dass die Konkurrenz von Jürgen Spieß nach v max eine höhere Treibhöhe bis zur maximalen Zughöhe der Hantel erzielen, trotz der fast durchweg günstigeren v min und tUmgr-Werte bei Jürgen Spieß. In der Tendenz scheinen sich diese Werte bei Jürgen Spieß (siehe DM 011) aber jetzt leicht zu verschlechtern. Diese erhöhte Zugdifferenz oder Treibeffekt der Hantel bei den Konkurrenten ergibt sich in erster Linie durch eine ökonomischere Technik, sichtbar im Ausdruck der Hantelflugbahn (HFB). Auch lassen sich mit einer individuell angepasster HFB gleichmäßigere Zugwerte (F 1,2,3) bei gleichzeitiger Vermeidung/Verminderung eines Geschwindigkeitsverlustes in v 2 erzielen. Eine Verbesserung der Technik ist in Bezug zu den obengenannten 3 Hauptkomponenten immer möglich. Voraussetzung dazu ist ein "Löschen" der alten Bewegungsmuster von "der Festplatte". Dies funktioniert nicht oder nur ungenügend mit den vom BVDG im Trainingskatalog angebotenen Mitteln.

Dazu ist für eine gewisse Zeit ein "speziell gezieltes antidynamisches Technik-Bewegungstraining" notwendig.

 

Über dieses spezielle Training werde ich in einem der nächsten Kapitel in z.B. über "Jugendarbeit im BVDG" ebenso wie über die Ur-uralten und phantasielosen Trainingsmethoden und die fehlplatzierten Bewertungskriterien im Jugendbereich berichten. Es werden dazu dann auch entsprechende Alternativen aufgezeigt.

 

Im Vergleich der Werte von Almir Velagic zu seinen möglichen Konkurrenten ergibt sich fast das gleiche Bild mit der niedrigeren Treibphase der Hantel zwischen svmax/sZH.

Name

Wettkampf

Last

svmax/sZH

Differenz svmax/sZH

vmin/tUmgr

Velagic

OS 08

188

109/138

+29

99/428

 

BL-Endk. 011

182

 108/138

+30

96/417

 

DM-011

182

 110/139

+29

83/407

Shymechko

OS-08

201

 116/152

+36

74/416

 

WM-09

202

 114/149

+35

82/409

An

WM-09

198

 111/146

+35

74/410

Chigishev

OS-08

210

 112/147

+35

57/401

Von Matthias Steiner liegen mir nur ältere Daten vor. Hier zeigt es sich sehr deutlich an dem Fehlversuch mit 207 kg, dass Matthias Treibphase, bei fast gleichbleibenden/identischen vmin/tUmgr-Werten von 34(198) über 32 (203) auf 29cm (207) abfällt. Der Grund dafür ist die sinkende vmax, dadurch fehlt Zughöhe bei gleichzeitiger Überschneidung der Schwerpunktlinie der Hantel

nach vorne.

Deutlich zu erkennen, dass diese 3 obengenannten Kriterien HFB, vmax und sZH im Zusammenspiel die Ursache für den Fehlversuch darstellen und vmin/tUmgr dabei überhaupt keine Rolle spielen.

Name

Wettkampf

Last

svmax/sZH

Differenz svmax/sZH

vmin/tUmgr

Steiner

OS -08

198

109/143

+34

89/417

 

 

203

109/141

+32

90/410

 

 

207

110/139

+29

95/410

Steiner

OS  -04

182,5

106/139

+33

94/430

Interessant ist der Versuch in 2004. Er erreichte damals mit 40 kg weniger Körpergewicht und mit den gleichen, eher noch schlechteren vmin/tUmgr-Werten, eine Bombenleistung. Dies gilt auch im prozentualem Verhältnis zum Stoßen. Das Ergebnis im Reißen 182,5:222,5 =82 % in 2004 und 203 :258 = nur 78,7% im Reißen gegenüber dem Stoßen in 2008. 2004 fing Matthias die Last 32 cm hinter der HSL mit einem FBrems-Wert von 148% in der Hocke ab.

2008 fing er die Hantel dann bei 16 cm hinter der HSL ab und erreichte einen FBrems-Wert von 166%.Dieser Wert ist für das Reißen eindeutig zu hoch.

In 2004 ließ Matthias die Hantel noch in Zugrichtung "laufen", d.h. den Weg zu seiner Körperschwerpunktlinie hin und nach hinten über/hinter den Kopf.

Dieser Ablauf der Technik ist logisch und wird in der Weltspitze auch versucht fast ausnahmslos anzuwenden. 2008 sieht es nun so aus als sollten die Schwerpunktlinien Hantel und Körper eng beieinander gehalten werden. Dieses Ziel ist sehr schwierig zu erreichen. Inwieweit die relativ hohe Körpermassenzunahme zur Technikveränderung beigetragen hat, kann ich nicht beurteilen, da ich mit solchen krassen Gewichtsunterschieden in der Relation zur Technik keine Erfahrung habe.

 

Hier zwei weitere Beispiele für die fehlende Korrelation der Leistung zu vmin und tUmgr in der 85 kg - Klasse.

Name

Wettkampf

Last

svmax/sZH

Differenz svmax/sZH

vmin/tUmgr

M.Müller

Bl-Endk. 011

151

95/124

+29

106/429

T.Schwarzbach

Bl-Endk. 011

153

97/121

+24

 74/359

Michael Müller ist mit einem Verhältnis Reißen zu Stoßen von 83,8 % aus 151 kg zu 181 kg als der physisch schwächere aber eindeutig technisch bessere (gute) Heber einzustufen. Tom Schwarzbach mit nur 75,6 % Ausbeute im Reißen gegenüber dem Stoßen (155 :205) weist teilweise Geschwindigkeitsverluste von über 20 % zwischen v1 und v2 aus und zeigt eine deutliche Schleuderbewegung .

 

Er liegt damit weit unter seinen von der Maximalkraft zu erwartenden Möglichkeiten. Die erheblich besseren vmin/tUmgr-Werte von T.Schwarzbach gegenüber von M. Müller lassen keinen positiven Bezug zur Leistung oder der technischen Wertigkeit erkennen. 170 kg im Reißen müssten bei ähnlicher Technik wie bei Müller von T. Schwarzbach erreicht werden. Das würde im BVDG dann evtl. sogar zur A-Kadereinstufung reichen und auch Anschluss an die Weltspitze bedeuten.

 

Die Konsequenz in diesem Fall kann nur heißen "Festplatte löschen" und das "System" auf individueller Basis optimal einrichten.

 

Auffällig bei beiden Sportlern  sind außerdem noch die überhöhten FBrems-Werte von um die 170 %. Im Training ist es mit den im BVDG durchgeführten üblichen Reißkniebeugen und Hockesenken mit vorzeitigem Abbremsen der Last nicht getan, weil diese Bewegungsabläufe nicht dem korrektem Bewegungsablauf des Abtauchens während des Reißens entsprechen.

 

Ärgerlich ist auch die Leistungsbilanz der leichten Gewichtheber 56/62 kg Heber Phillip Scholte(19 Jahre) und Max Lang (20) bis 69 kg. Eine noch ungünstigere Bilanz als T. Schwarzbach weist Phillip Scholte mit 91:126 in der Klasse bis 56 kg und der mageren Ausbeute von nur 72.2 % zum Stoßen, bei besten vmin/tUmgr-Werten ,auf. Aktuell zeigte er nur 90 :133 kg. Die Leistung im Reißen liegt unter 70% seiner Leistung im Stoßen. Diese Leistung muss jeden Trainer zur Überprüfung seiner Trainingsmethoden veranlassen. Max Lang mit seinen Bestwerten von 125 :160 liegt im Reißen bei 78% der Leistung im Stoßen und dies bei günstigen vmin/tUmgr-Werten. Auffallend bei Max ist die rapide sinkende Treibkraft und der Abfall von vmax von 180 über 172 auf nur 162 m/s für die Leistung im Reißen von 122 kg!

Name

Wettkampf

Last

svmax/sZH

Differenz svmax/sZH

vmin/tUmgr

P.Scholte

Ronal - 011

87

94/117

+23

72/340

M.Lang

Ronal - 011

113

99/125

+26

78/370

 

 

118

101/125

+24

80/356

 

 

122

101/122

+21

101/351

Für mich ist es unverständlich, dass solche Auffälligkeiten bei diesen Kaderathleten bisher nicht angegangen und behoben wurden!

 

Ein Vergleich zu Hebern der Weltklasse, hier der 69 kg-Kategorie zeigt, dass die vmin zu den zwei Vorgenannten deutschen Gewichthebern etwa gleich und die tUmgr -Werte der Weltklasseleute eher ungünstiger liegen. Deutlich zu erkennen ist aber, dass die Treibhöhe bei den persönlichen Grenzgewichten der absoluten internationalen Spitzenathleten augenscheinlich höher ist als bei den Vorgenannten ebenfalls leichten deutschen Athleten und deren gültiger Endleistung( Scholte 23,Lang 21cm). Liao Hui ist der amtierende Olympiasieger und mehrfacher Weltmeister. Martyrosian Juniorenweltrekordler bis 69 kg( 158 kg), die Messwerte sind bei ihm von den WM 09, er trat dort in der 77 kg-Klasse an. Tryatno dem WM-Dritten  09 in der 69 kg - Kategorie.

Name

Wettkampf

Last

svmax/sZH

Differenz svmax/sZH

vmin/tUmgr

Liao Hui

WM - 09

160

94/121

+27

76/384

Martirosysan

WM - 09

170

95/125

+30

84/382

Triyatno

WM - 09

150

93/122

+29

77/384

Dass das Gewicht von den Drei im ganzen Ablauf beherrscht wird zeigt sich auch in den Abfangwerten der Last  die in den FBrems -Werten bei Hui 134%, Martirosyan 131% und Triyatno 134%.´betragen.

 

Der Bildverlauf tUmgr = (vmax bis vmin) bei Thimo Solar. Das letzte Bild in dieser Reihe ist vmin = (vertikales Maximum der Hantelgeschwindigkeit).



Name

Wettkampf

Last

svmax/sZH

Differenz svmax/sZH

vmin/tUmgr

T. Solar

Liga 10.12. 2011

161

111/148

+37

74/419

Die Leistung wurde erzielt mit vmax von 203 und FBr mit 133%. 

Anhand des Bewegungsverlaufes beim Hochsprung kann man erkennen wie wichtig die anatomisch vorgegebene individuelle Sprungbahn (Bewegungsbahn) ist. Beim Gewichtheben muss die Last/Hantel über bzw. hinter den Kopf gebracht werden. Beim Hochsprung der Körper über die Latte. Beides beinhaltet gemeinsame komplexe Bewegungsaspekte; Beim Hochsprung könnte man im Vergleich zum Reißen die Positionen des Springers in etwa 1 + 2 als Start setzen. Position 3 als v1, Pos. 4 als v2, Pos. 5 bis 9 als tUmgr und Pos. 9 als vmin.

Zeichnung entnommen aus Steckbriefaufgaben von Torsten Warncke 2005.
Zeichnung entnommen aus Steckbriefaufgaben von Torsten Warncke 2005.

Man kann erkennen (grüner Verlauf), dass bei einer nicht optimalen Absprungstellung die notwendige Höhe um die Latte zu überspringen nicht erreicht werden kann. Diese ungünstige Absprungstellung ist z.B. beim Reißen mit einer zu starken Überlagerung der Schulter über der Hantel beim Zugbeginn vergleichbar, bzw. einer unkorrekten Parallelverschiebung während des Zuges. Beim Hochsprung liegt es daran, dass die Flugbahn des Springers wegen des zu frühen Absprungs nicht mehr korrigiert werden kann.

Beim Gewichtheben verändert sich bei dem fehlerhaften Start (durch zu großer Überlagerung der Schulter bzw. unkorrekte Parallel - verschiebung während des Zuges) die Hantelflugbahn und der Athlet kann mit der Last nicht mehr die erforderliche Höhe erzielen um eine maximale Last zu bewältigen. Man kann auch erkennen, dass der Hochspringer auf der Position tUmgr 5 bis 9 keine Wirkung entfalten kann, das gleiche gilt für vmin auf Pos. 9.

Bei vmin liegt für den Heber keine komfortable Gummimatte zum Abfangen der Last bereit, es lässt sich das Abfangen der Last in der Hocke aber mit dem richtigen Trainingsmittel gut trainieren. Ich stelle fest, tUmgr und vmin gezielt trainieren zu wollen, ist an den falschen Stellschrauben gedreht und außerdem kaum möglich.

 

Ebenso halte ich es für nicht sinnvoll irgendwelche "Ortskurven" anzustreben die nicht dem natürlichem Zugverlauf folgen, sondern die Schwerpunktlinie der Hantel nach vorne verschieben. Die technischen Möglichkeiten in den schweren Gew.-Klassen könnten allerdings durch das Vorhandensein einer übermäßigen Leibesfülle (Bauch) eingeschränkt sein.

 

Siehe weitere Technikhinweise für das Reißen in Kapitel 13